Das gemeinsame Europa als Raum und Aufgabe

Summer School 2024

Sommerschule “Gemeinsames Europa” in Toruń: Der anstrengende Alltag europäischer Politiker:innen

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Es war wahrscheinlich der letzte warme Sonntag des Jahres, an dem unsere kleine Gruppe aus Studierenden der Viadrina und Mitarbeitern des VCPU die Reise nach Toruń (Polen) zur Sommerschule “Gemeinsames Europa” antraten. Begleitet von Sonnenschein begann die thematische Auseinandersetzung mit Europa schon im Zug: Wurzeln des gemeinschaftlichen Europas wurden diskutiert, Familienvergangenheiten vorgestellt und die Vertretbarkeit der Darstellung von Inowrocław als Hohensalza auf den deutschen Google-Maps angezweifelt. Nach der Ankunft und dem Abendessen im Universitätshotel ging es für einen Teil unserer Gruppe ins Stadtzentrum, während ein anderer Teil den Sportplatz bevorzugte. Die ukrainischen Studierenden kamen zu diesem Zeitpunkt erst von ihrerer 26-stündigen Anfahrt an.

Der nächste Tag bildete den inhaltlichen Beginn der Sommerschule und die knapp 30 Studierenden wurden gleich morgens in vier Fraktionen eingeteilt. Das Ziel: Am Donnerstag eine Debatte des Europäischen Parlaments zu simulieren. Die S&D, EVP, die Grünen und die Patrioten für Europa (PfE) sollten in den Bereichen Wirtschaft, Sicherheit und Erweiterung Erschließungsanträge erarbeiten und verfassen, über die nach einer Debatte abgestimmt werden würde. Die Besonderheit der Simulation war, dass die Ukraine der EU beigetreten ist. Der erste Tag wurde vor allem für die interne Organisation in den Fraktionen genutzt: Themenbereiche mussten aufgeteilt, ein(e) Fraktionsvorsitzende(r) gewählt und Positionen grob festgelegt werden. Schneller als erwartet brach der Nachmittag an und ein Bus wartete schon, um uns ins abgelegene ArtHouse RR zu bringen. Dort sollten Alpakas, eine Fotoworkshop, ein Grill und Lagerfeuer uns helfen, die nationalen Gruppen aufzubrechen und ins Gespräch und in interkulturellen Austausch zu kommen.

Ein ähnliches Ziel hatte auch das gemeinsame Kochen am nächsten Tag. Jede Fraktion erhielt Geld und sollte innerhalb von vier Stunden ein Mittagessen vorbereiten. Der Kreativität wurde freier Lauf gelassen und alle zogen es vor, ein ganzes Menü aus Vor-, Haupt- und Nachspeise vorzubereiten. Diverse Salate, Suppen, Pfannkuchen sowie Klopse, Fisch, Pizza und Kuchen schmückten unseren Küchentisch, während die Aufräumarbeiten danach doch einen beträchtlichen Teil unserer Mittagspause stahlen.

Am Nachmittag verschob sich die Arbeit in der Fraktionen auf eine eher inhaltliche Ebene. In den Korridoren der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń fanden erste Gespräche zwischen Fraktionsvorsitzenden statt und damit begannen die Versuche, themenbezogene Allianzen zu bilden. Mancherorts wurde auch an politischem Agitationsmaterial gearbeitet.

Auch diesmal verstrich die Fraktionsarbeit wie im Fluge. Das Abendessen stand bereit und danach wartete der Stadtrundgang. Nur war genau das der Moment, an dem sich die einizige Regenwolke in der ganzen Woche entschied, sich über der Stadt ausuzgießen. Aufmerksam lauschten die Studierende unter dem Dach der Universität Erzählungen über die sagenumwobene Stadt Toruń, wie die Geschichte der Thorner Lebkuchen, die Legende über den schiefen Turm von Toruń oder den Flößer von Toruń.

Als sich das Unwetter gelegt hatte, führten alle Wege (durch die herbstlich-kühle historische Altstadt) in eine Studentenbar.

Umrahmt von Vorträgen zu den Grundlagen des Europarechts und dem Rechtstrend in der europäischen Jugend, sollte die Fraktionsarbeit am Mittwoch abgeschlossen werden. Die Zusemmanarbeit zwischen den Fraktion wurde verstärkt, es entstanden Arbeitsgruppen, um gemeinsame Anträge zu verfassen. Für die Vorbereitung der eher populistischen Teile der Debatte dienten manchmal fragwürdige Quellen (TikTok) als rhetorische Inspiration, während die Mehrheit der Studierenden jedoch unermüdlich Zahlen und Fakten heraussuchte, um die Poisitionen der Gegner so zu entkräften. Zudem vermochten die Studierenden, sich eine zusätzliche Fraktionssession am Donnerstag zu erkämpfen, um die letzten Striche bei Beiträgen und Anträgen setzen zu können. Der vorletzte Abend führt vom Abendessen in eine Eisbar und danach in eine Spielebar, während die Zahl der anwesenden Studierenden sich langsam, aber kontinuierlich verringerte.

Der Donnerstagvormittag brachte die erhoffte Möglichkeit für die letzten Feinschliffe und so waren allen mehr oder weniger bereit für die abschließende Debatte. Diese bot alles, was man sich von einer politischen Debatte erhoffen würde: Spannung, Konfrontation, neue Ideen, aber auch Populismus. Olaf Scholz wurden Lobeshymnen gesungen, PfE und Grünen schrieen sich an und Schutz europäischer Nationen wurde gefordert. 17 Entschließungsanträge wurden gestellt. Davon wurden 3 abgelehnt und der Rest angenommen, da sich meistens eine Mehrheit von 2-3 Fraktionen fand. Agbelehnt wurden Anträge der PfE zur Grenzsicherung und dem Stopp der EU-Erweiterung sowie der S&D für eine diplomatie-basierte Verteidigungspolitik. Anträge für ein Sondervermögen für die Rüstungsindustrie (PfE), von Hochwasser betroffenen Gebiete sowie kleinen und mittleren Unternehmen (EVP), für die Entwicklung eines Partnerschaftsprogramms für Beitrittskandidatenstaaten (EVP), für stärkere Kooperation in den Bereichen Cybersicherheit und Nachrichtendienste (Grüne, EVP) sowie die institutionelle Stärkung des Europäischen Parlaments (S&D) wurden (nahezu) einstimmig angenommen. Der Antrag der EVP zu Frontex konnte trotz Widerstands eine knappe MEhrheit gewinnen, während die weiteren Anträge zur Wirtschaft, Migration und Erweiterung die PfE gegen sich hatten. Und später, abends, in der Eisbar endete dann das Programm der Sommerschule in Toruń.

Trotz des sehr vollen Programms und praktischer Orientierung, bot die Sommerschule einen Rahmen für einen interkulturellen Austausch. Studierende aus drei Ländern konnten Ideen und Erwartungen zu der EU formulieren und austauschen, während die Vorbereitung auf die Debatte Schwierigkeiten und Herausforderungen politischer Prozesse nochmals verdeutlichte. Das Format Deutschland-Polen-Ukraine scheint Potenzial zu bergen, insbesondere was die Ausgestaltung der Zukunft Europas und der EU betrifft. Die Sommerschule in Toruń war eine Anregung für uns Studierende, mehr in diesem oder in ähnlichen Formaten zu denken und die Rolle der Brückenbauer, für die die Viadrina stehen soll, anzunehmen und zu leben.

Text: Jakov Malerius